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Dieter Bürgin
Psychoanalytische Grundannahmen
Vom analytischen Hören im klinischen Dialog
Gemeinsam mit Angelika Staehle, Kerstin Westhoff und Anna Wyler von Ballmoos
1. Aufl. 2020
132 S., 15,5 x 23,5 cm, Pb. Großoktav
19,90 €
ISBN 9783955582807

Lieferbar

Die psychoanalytische Erforschung der Grundannahmen aller am Therapieprozess Beteiligter wirft ein neues Licht auf die Wirkungsweisen oder auch Missverständnisse in einer Psycho­therapie. Bürgin und seine Co-Autorinnen gelangen zu der Erkenntnis, dass man ohne Grundannahmen nicht denken kann und deren Verschiedenheit Toleranz fördert und den Therapieprozess intensiviert.

Es handelt sich bei Grundannahmen um explizite und implizite Überzeugungen von jedem Einzelnen, welche wegleitend sind für die Vorgänge des Hörens, Verstehens, Abschätzens, Einordnens, Antizipierens und Regulierens sind, denn das analytische Hören wird durch die Grundannahmen des Analytikers wie auch des Patienten mitgestaltet. Diese unterschiedlichen Arten des Hörens und Verstehens wurden im Gruppendiskurs herausgearbeitet und dargestellt.
Im psychoanalytischen Konzeptualisieren bleibt kein Raum frei ohne Grundannahmen. Grundannahmen schaffen so eine gewisse Stabilität, aber auch Einengung. Sie lassen sich entwickeln und hinterfragen und verändern sich in Abhängigkeit von der jeweiligen therapeutischen Beziehung und der Qualität des Dialogs.

 

 

 

Inhalt

1.    Einleitung

2.    Grundannahmen
    2.1    Grundannahmen und Individuum
    2.2    Grundannahmen und behandlungstechnische Fragen
    2.3    Grundannahmen und Gesellschaftsordnungen
    2.4    Grundannahmen und Gruppe

3.    Das Interview (Simone, 7 Jahre und 7 Monate alt)

4.    Anamnestische Angaben und Verlaufsdaten der Hospitalisation
    4.1    Familienanamnese
    4.2    Persönliche Anamnese

5.    Kommentare der Gruppenteilnehmerinnen und des -teilnehmers
    5.1    Kommentar 1 (Dieter Bürgin)
        5.1.1    Anmerkungen zum Gebrauch von »Squiggles«
        5.1.2    Anmerkungen zu Grundannahmen und unbewussten Phantasien
        5.1.3    Das Interview
        5.1.4    Das Spiel mit den Plüschtierchen
        5.1.5    Abschließende Bemerkungen

    5.2    Kommentar 2 (Anna Wyler von Ballmoos)
        5.2.1    Einleitende Bemerkungen
        5.2.2    Zum Interview
        5.2.3    Squiggles
        5.2.4    Spiel mit den Plüschtieren
        5.2.5    Abschließende Bemerkungen
    5.3    Kommentar 3 (Kerstin Westhoff)
        5.3.1    Einleitende Bemerkungen
        5.3.2    Stundenverlauf
        5.3.3    Nachlese
    5.4    Kommentar 4 (Angelika Staehle)
        5.4.1    Explizite Grundannahmen für die psychoanalytische Situation
        5.4.2    Implizite Grundannahmen
        5.4.3    Mein Hören und meine Sichtweise des Interviews mit Simone
        5.4.4    Squiggles
        5.4.5    Fortsetzung der Geschichte mit den realen Spiel-Tieren im Raum

6.    Diskussion und Erfahrungen aus der Arbeitsweise der Gruppe

7.    Zusammenfassung

 

 


Einleitung
Gemeinsames Denken macht glücklich!
Es gehört zu den Erfahrungen der meisten Analytiker, dass ein ­Bericht über eine analytische Behandlung auf sehr verschiedene ­
Art und Weise aufgenommen und auf Grund der verwendeten ­Konzepte unterschiedlich aktualisiert werden kann. Wird das ­»Material« kleinianisch, bionianisch, freudianisch oder irgend­einer anderen Schule folgend verstanden, so entstehen daraus ­unterschiedliche Arten des Verstehens und entsprechend verschiedenartige technische Vorgehensweisen. Warum ist das so?
Das metapsychologische Theoriegebäude der Psychoanalyse hat sich im Verlaufe der letzten 100 Jahre einerseits vereinheitlicht, andererseits aber auch – den bewussten und noch viel stärker unbewussten Grundannahmen ihrer Vertreterinnen und Vertreter folgend – in vielfachen Verästelungen differenziert.
Die unbewussten Grundannahmen entstehen aus dem Kern der Persönlichkeit, sind gleichsam die Pfeiler, welche die Denkvorgänge des Primär- und des Sekundärprozesses und damit auch die Art der gesamten Affekte und Phantasmen eines Individuums tragen. Sie zeigen sich in basalen, zumeist nicht weiter hinterfragten Überzeugungen, welche wegleitend für die Vorgänge des Verstehens, Abschätzens, Einordnens, Antizipierens und Regulierens sind. Ein kleiner Teil davon wird uns beim Reflektieren oder nach entsprechenden Vorgängen bewusst zugänglich. Wir bezeichnen das meistens mit Sätzen wie: »Ich sehe dies einfach so!«, »Meiner Ansicht nach ist dies so oder so!«, »Ich bin der Überzeugung, dass…« oder »Ich kann nicht anders als…«
Ein kleiner Teil der eigenen unbewussten Grundannahmen wird uns während des Prozesses der eigenen Analyse bewusst und deutlich. Ein weiterer Teil drängt während der existenziellen Vorgänge des eigenen Lebens in Richtung Bewusstsein und damit zur subjektiven Wahrnehmung. Der größte Teil aber bleibt, wie ein Hintergrundprogramm, konstant aktiv, kann mit dem »dream screen« von Lewin (1953) verglichen werden, wirkt auf sämtliche intrapsychischen und interpersonalen Abläufe eines Individuums oder einer Gruppe bestimmend ein und wird – vergleichbar mit einem gut funktionierenden Organ – ohne spezifisches Nachdenken – kaum wahrnehmbar. Ein Satz wie der vorangegangene kann als Quintessenz vieler Erfahrungen und Wahrnehmungen verstanden werden. Er enthält aber in unvermeidbarer Weise auch eine Vielzahl von Grundannahmen des Schreibenden und, sollte er gelesen werden, auch der lesenden Person.
In den von H. Faimberg gegründeten Gruppen wird versucht, klinisches Material daraufhin zu explorieren, nach welchen Grundannahmen jedes der Gruppenmitglieder die vorgestellten klinischen Episoden versteht, welche Hypothesen über die Grundannahmen der vorstellenden Person bei jedem Einzelnen entstehen, welche Grundannahmen in den Aussagen des jeweiligen Patienten enthalten sein könnten und, schließlich, welche Grundannahmen jedes Gruppenmitglied über die Interventionen der anderen Gruppenmitglieder und deren potenzielle Grundannahmen entwickelt.
Bei solchen Diskussionen kommen die Teilnehmenden nicht darum herum, dass ein Teil ihres selbstverständlichen, gesicherten, theoretischen Wissens in Frage gestellt wird. Sie finden allmählich zu einer Grundannahme, dass niemand »die Wahrheit« besitzt, die Exploration der basalen Elemente des Denkens, Fühlens und Wollens eines Gegenübers nicht nur interessant ist, sondern, in der Konfrontationen mit der Andersartigkeit des Anderen, das Eigene nur umso deutlicher macht.
Die Arbeitsgruppe der vier an der Autorenschaft dieses Papiers beteiligten Personen stellte sich an vier Wochenendtreffen die Aufgabe, sich anhand eines transkribierten, auf Video aufgenommenen Erstinterviews mit einem Kind über die gegenseitigen Grund­annahmen und die unterschiedliche Rezeption des klinischen ­Materials auszutauschen. Der Prozess wurde von allen Teilnehmenden als sehr stimulierend erlebt, da Positionen von Rechthaberei und Rivalität sich sofort zu Gunsten von kreativer Anregung, Interesse und Forschungslust auflösten. Im wechselseitigen Diskurs wurden nämlich nicht nur die eigenen, mehr oder weniger bewussten Grundannahmen deutlich, sondern es traten, ausgelöst durch die Fragen der Gruppenmitglieder untereinander, auch eigene, bislang unbewusste Grundannahmen ans Tageslicht.
In einer ersten Runde wurde das Problem der Grundannahmen diskutiert. Danach wurde das Video mehrfach in kleinen Episoden angeschaut. Jede Episode wie auch die Sequenz der Episoden wurden zusammen intensiv, mit großer Lust wie auch mit entsprechender Ernsthaftigkeit erörtert. Alle Teilnehmenden verfassten einen ersten Entwurf ihrer persönlichen Verständnisweise und die Erfahrungen beim Reflektieren der eigenen Grundannahmen. Die Gruppe tauschte sich über diese Berichte an Hand des Interview-Transskriptes vertieft aus und lernte erst dann die anamnestischen Grunddaten kennen. Sie verfügte somit nicht nur über einen gemeinsam geteilten Text, sondern auch über die gemeinsam erlebten Bilder in der Szenerie des Videos. Dies erleichterte zu Beginn den Austausch; im Verlauf aber basierten alle mehr auf dem Text und den Bildern als auf dem Video. Schließlich wurde der Entschluss gefasst, die wesentlichen Punkte der Erfahrungen in einer Publikation zusammenzufassen. Dieses Vorgehen sollte dazu dienen, interessierte Leser und Leserinnen anzuregen, die Abläufe in der Gruppe mit zu verfolgen, sich ein eigenes Bild zu machen und sich selbst mehr Klarheit über die eigenen Grundannahmen zu verschaffen. In Supervisionen und Intervisionen kann dieses Vorgehen gewiss auch mit gutem Nutzen verwendet werden, da es aus dem Bereich der Rechthaberei hinaus in einen Raum des gemeinsam Geteilten wie auch des Unterschiedlichen hineinführt, eigene blinde Flecke – wenigstens partiell – aufzuheben gestattet und die Attraktivität der Betrachtung eines gleichen Phänomens von verschiedenen ­Gesichtspunkten aus erhöht.

 

 

 


Presseecho

»Das vorliegende Buch bildet eine Chance, Wissenschaften gedanklich zu vereinen, weil es sehr selbstreflexiv angelegt ist und mit den Grundpfeilern der Disziplin arbeitet. Es bietet Anknüpfungspunkte für Menschen in allen Wissenschaften, die mit der Subjekt-Objekt-Relation zu tun haben. Das dürften alle sein. Zumindest kulturwissenschaftliche, medizinische, sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Disziplinen sollten sich diese Arbeit am und mit dem Subjekt vergegenwärtigen, damit sie reflektieren, was richtig und falsch ist und nicht intuitiv entscheiden. (...) Das Buch gibt viele Antworten und bleibt dabei ›grundehrlich‹, denn die zunehmende Gegenwartsschrumpfung lässt Antworten flüchtiger werden.«

(Prof. Dr. Lutz Finkeldey, für socialnet.de)

 

»Die psychoanalytische Erforschung der Grundannahmen aller am Therapieprozess Beteiligten wirft ein neues Licht auf die Wirkungsweisen oder auch Missverständnisse in einer Psycho­therapie. Bürgin und seine Co-Autorinnen gelangen zu der Erkenntnis, dass man ohne Grundannahmen nicht denken kann und deren Verschiedenheit Toleranz fördert und den Therapieprozess intensiviert. (...) Es ist auf diese Weise bei dieser psychoanalytischen Erforschung der Grundannahmen (...) ihre Wirkweise und -kraft auf innovative Art beleuchtet und so entborgen worden.«

(Marga Prankl und Walter Prankl, kultur-punkt.ch)


 

 
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