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Roger Frie
Nicht in meiner Familie
Deutsches Erinnern und die Verantwortung nach dem Holocaust
1. Aufl. 2020
316 S., 15,5 x 23,5 cm, Paperback Großoktav
29,90 €
ISBN 9783955582845

Lieferbar

»Dieses Buch ist so bemerkenswert, weil ihm das beinahe Unmögliche gelingt: den Schmerz der Deutschen anzuerkennen, ohne die unvorstellbaren Leiden und Schmerzen, die Deutschland anderen zugefügt hat, je aus dem Blick zu verlieren. Leidenschaftlich und großherzig lässt Frie die Leser an seinen psychischen Prozessen teilhaben. In einem kontinuierlichen Prozess der Selbst erforschung und Selbstreflexion erforscht er die tiefsten Tiefen auf seiner Suche nach einer ›gelebten historischen Wahrheit‹ in sich selbst, nach der Wahrheit seines geliebten Großvaters mütterlicherseits, eines Mitglieds der Nazi-Partei, und dessen Komplizenschaft bei den Verbrechen, die das Nazi-Regime verübte.«
Dori Laub, MD, Clinical Professor of Psychiatry, Yale University School of Medicine, und Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies

 

Inhalt

Anna Ornstein: Vorwort
Vorbemerkung
Dank
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung: Grenzen des Verstehens
1. Zuflucht oder Verbannung? Die Suche nach einem neuen Zuhause
2. Das Aufarbeiten meines großelterlichen Erbes
3. Geprägt durch Geschichte, gefangen in Sprache
4. Wessen Leiden? Narrative des Traumas
5. Mit der Nazivergangenheit leben
6. Wissen und Nichtwissen
7. Das Schweigen brechen
Coda: Meinen Großvater finden

 

Anna Ornstein: Vorwort

»Was bedeutet es, in einem Netz der Geschichte gefangen und Teil einer traumatischen Vergangenheit zu sein, über die wir keinerlei Kontrolle haben?« Roger Frie beantwortet diese Frage in einer autobiographisch orientierten Untersuchung, in die er die Geschichte der jüngsten drei Generationen seiner Familie einbezieht. Geboren in Nordamerika als Sohn deutscher Einwanderer, gab es für Frie, der akzentfrei Englisch spricht, keinen zwingenden äußeren Grund, sich auf eine emotionale Auseinandersetzung mit seiner deutschen Herkunft einzulassen. Er hätte mit dem von der Mehrheit der heutigen Deutschen geteilten Mythos leben können, dass die Planer und Durchführer des Holocaust vom Nürnberger Gericht für ihre Verbrechen angemessen bestraft worden seien und es für spätere deutsche Generationen keine Ursache gäbe, sich wegen der Verbrechen ihrer Vorfahren schuldig zu fühlen. Frie beschreibt die Schuld- und Schamgefühle, die er gleichwohl empfindet, aufrichtig und mit der entschlossenen Stimme eines umsichtigen Philosophen und Psychoanalytikers, der seine Leserinnen und Leser auffordert, die moralischen Dimensionen anzuerkennen, die dem Holocaust-Gedenken für seine eigene und für künftige deutsche Generationen innewohnen. Frie demonstriert anschaulich, wie unsere Erinnerungen durch die historische und kulturelle Vergangenheit geprägt und durch die aktuellen politischen Verhältnisse gefiltert werden. Indem er sich selbst zum Objekt seiner Forschung macht, leistet er einen wertvollen Beitrag zur Erklärung des komplexen und vorwiegend unbewusst ablaufenden Prozesses, durch den traumatische Erinnerungen weitergegeben werden. Als Angehöriger der dritten deutschen Generation nach dem Holocaust genoss er bei häufigen Besuchen in Deutschland die Aufmerksamkeit seines Großvaters. Wenn im Familienkreis über die Kriegsereignisse gesprochen wurde, ging es um die Stunden im Luftschutzbunker und um die Bombardierung des Elternhauses seiner Mutter durch die Alliierten. Nicht gesprochen wurde über das Schicksal der jüdischen Mitmenschen: Familiengespräche drehten sich in erster Linie um deutsches Leiden. Die Angehörigen der Täter- und Mitläufergeneration und ihre Kinder waren, so Frie, im Allgemeinen »wenig motiviert, sich mit ihrer Teilhabe an einem unmoralischen Regime oder seiner völkermörderischen Politik auseinanderzusetzen« (S. 138). Überzeugt, dass kulturelle und historische Realitäten uns sowohl belasten als auch definieren, versucht der Autor dieses Buches nicht, vor seiner eigenen kulturellen und historischen Realität davonzulaufen. Als er entdeckte, dass sein Großvater sich der NSDAP angeschlossen hatte, stellte er sich die Frage: Kann ich den Großvater, den ich mein ganzes Leben lang geliebt und bewundert habe, weiterhin lieben und bewundern? Und bin ich fähig, mich empathisch an seinen Platz in der Geschichte zu versetzen und seine Entscheidung anzuerkennen, der Nazipartei in voller Kenntnis dessen, wofür sie stand, beizutreten? Nur wenige Deutsche stellen sich solche Fragen, obwohl sie alle begreifen müssen, dass die systematische Ermordung von Millionen Menschen im Dritten Reich ohne die Unterstützung und Mitwirkung der ganz gewöhnlichen Deutschen nicht möglich gewesen wäre. Durch seine skrupellose Ehrlichkeit ermutigt Frie seine Leserinnen und Leser, sich zu fragen, welchen Einfluss ihre nationale Geschichte und ihr kulturelles Erbe auf sie selbst ausgeübt haben und ausüben. Ich habe bei der Lektüre über meinen eigenen Hintergrund und meine Kindheitserfahrungen nachgedacht. Ich bin im zutiefst antisemitischen Ungarn aufgewachsen, wo Menschen jüdischer Herkunft im Einklang mit den vom ungarischen Parlament in den 1930er Jahren beschlossenen Maßnahmen verfolgt und ihrer Bürgerrechte beraubt wurden. Bald nachdem die Deutschen das Land 1944 besetzt hatten, wurden meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter und ich nach Auschwitz deportiert. Mein Vater und mehrere Angehörige wurden dort ermordet. Meine beiden Brüder, damals 20 und 22 Jahre alt, haben die Misshandlungen, die sie als Zwangsarbeiter erlitten, nicht überlebt. Ich musste mir die Frage stellen: Wie war es möglich, dass ich und viele andere Überlebende nach derart verheerenden Verlusten weiterleben, gut funktionierende Familien gründen und nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden konnten? Wie wurde meine Fähigkeit, mit einer relativ intakten Psyche zu überleben, durch die Geschichte des jüdischen Volkes – genauer: durch mein kulturelles Erbe und meine persönlichen Erfahrungen in meiner Familie – beeinflusst? Als kleinste soziale Einheit wurde die Familie stets als Mittler zwischen der Gesellschaft und den individuellen Familienmitgliedern anerkannt. Nicht nur die Erinnerung an traumatische Ereignisse findet ihren Weg zu nachfolgenden Generationen, vielmehr werden auch kulturelle Muster, die tiefe Überzeugungen und Wertesysteme enthalten, innerhalb der Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben. Werte und Ideale werden durch Mythologie, Ideologie und religiöse Bräuche schon von den jüngsten Mitgliedern der Familie verinnerlicht. Die Wahrung jahrhundertealter Traditionen schafft eine Kontinuität zwischen den Generationen und sichert den Erhalt grundlegender Werte. Die meisten jüdischen Feiertage werden im häuslichen Heim begangen. In meiner Kindheit haben wir die Feiertage gefeiert, die von allen orthodoxen jüdischen Familien begangen werden. Man saß um den Tisch und erzählte Geschichten über die Sklaverei und die Befreiung, über Leid und Erlösung und wundersame Errettungen vor der Vernichtung. Der Holocaust, grausamer und verheerender als jede vorangegangene Katastrophe, wirkte wie die direkte Fortsetzung aller früheren Versuche, das jüdische Volk auszulöschen. In meiner Familie wurde auch lebhaft über Bücher diskutiert, die meine Eltern und meine Brüder lasen, und über die Musik, die sie gern hören wollten. Und natürlich gab es erregte Debatten über die gefährliche politische Situation, die Flucht meines Onkels aus Wien, die Sorge über unsere Verwandten in der Slowakei. Uns Kindern wurde vermittelt, dass die Kenntnis unserer eigenen Geschichte und der Geschichte der Welt, in der wir lebten, außerordentlich wichtig sei; der Botschaft, dass Bildung an allererster Stelle stehen müsse, konnte sich niemand entziehen. Meine offensichtliche Resilienz und mein Leben nach der Shoah bestätigen Saul Friedländers Worte: »Je mehr die Zeit vergeht, um so deutlicher empfinde ich, daß sich in dieser ersten Welt meiner Kindheit mein eigentliches Ich geformt hat, trotz der ungeheuren Veränderungen, die später folgen sollten« (Friedländer 1979 [1978], S. 36). Wie unter einem Vergrößerungsglas untersucht Roger Frie den Prozess der Transmission traumatischer Erinnerungen. Dies wäre mit den breiten Pinselstrichen des historisch-kulturgeschichtlichen Narrativs, das sich für mein emotionales Überleben als so hilfreich erwiesen hat, nicht möglich. Die detaillierte Untersuchung der jüngsten drei Generationen seiner Familie ermöglicht es, die verbalen und nonverbalen Aspekte der Transmission des Traumas nachzuvollziehen und insbesondere zu beobachten, wie das selektive Schweigen der »ersten Generation«, der Generation der Täter, deren Kinder, die »zweite Generation«, und sogar die Enkelkinder, die »dritte Generation«, beeinflusste, der Roger Frie angehört. Die Täter selbst hatten allen Grund, über ihre Erfahrungen Stillschweigen zu wahren. Ihre Zukunft hing davon ab, dass keine Zweifel an ihrer vermeintlichen Unschuld und Opferrolle während des Dritten Reichs laut wurden. Sie waren nach der schmachvollen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg aufgewachsen, hatten sich die Naziideologie zu Eigen gemacht, für Adolf Hitler und den deutschen Ruhm gekämpft und mussten sich nun, nach dem Krieg, in vorteilhaftem Licht präsentieren. Nur wenige der Angeklagten, die an den grauenvollen Verbrechen beteiligt gewesen waren, bestritten ihre Taten nach 1945, doch alle bestanden sie darauf, sich niemals schuldig gefühlt zu haben. Viele von ihnen zeigten sich tatsächlich überrascht darüber, dass jemand ihre Handlungen als Verbrechen ansehen konnte (Sereny 1979 [1974]). Im juristischen Sinn hatten sie Recht: Sie hatten mit den Verbrechen, für die sie vor Gericht standen, gegen kein Gesetz verstoßen, und das individuelle Gewissen setzt sich kaum je über eine staatlich sanktionierte Ideologie hinweg. Was die Macht solcher Ideologien und die Verhinderung von Massenmorden und Genoziden betrifft, so könnte die Psychologie der Menschen, die Widerstand geleistet haben, aufschlussreicher sein als die der Täter. Es ist zugegebenermaßen schwierig, die Psychologie von Tätern und Mitläufern zu verstehen, aber das Verständnis der Psychologie von Menschen, die gegen autokratische Regime kämpfen, ist eine noch größere Herausforderung. Fries Buch und meine eigenen Beobachtungen haben mich davon überzeugt, dass die deutsche zweite Generation, die Kinder der Täter, das Scharnier in der Weitergabe traumatischer Erinnerungen bildet. In vielen Fällen gerieten die Geschichten, die sie von ihren Eltern hörten, mit dem, was sie außerhalb der Familie über den Holocaust erfuhren, in Konflikt. Nur wenige stellten ihre Eltern zur Rede und erforschten in ihrer eigenen Familie, was in den 1960er und 1970er Jahren unübersehbar geworden war: Der Holocaust war in Deutschland und den besetzten Ländern allgegenwärtig, die Konzentrations- und Vernichtungslager allzu zahlreich, als dass sich der Mythos einer deutschen Bevölkerung, die von all dem nichts wusste, noch länger hätte aufrechterhalten lassen. Die meisten Angehörigen der deutschen zweiten Generation hatten offenbar einen psychischen Kompromiss geschlossen: Um ihre Liebe und Loyalität nicht infrage stellen zu müssen, teilten sie das Schweigen ihrer Eltern. Eine Ursache dieses Schweigens war vielleicht die Tatsache, dass die traumatische Enttäuschung über die eigenen Eltern für die Kinder der Tätergeneration unerträglich gewesen wäre: Sie wären der wichtigsten Quelle ihres Selbstwertgefühls beraubt worden. Stattdessen zogen sie es vor zu glauben, dass ihre Eltern Heldentaten an der Front verrichtet hatten, aber nicht an Deportationen und Massenmorden beteiligt gewesen waren. Fries Schilderung seiner Kommunikation mit seinen Eltern, Angehörigen der zweiten Generation, wirft Licht auf den komplizierten Prozess der Weitergabe traumatischer Erinnerungen. Weil er diesen Prozess hervorragend beschreibt, möchte ich ihn hier zur Gänze zitieren: »Als meine Eltern mir in meiner Kindheit zum ersten Mal von den grauenvollen Verbrechen der Shoah erzählten, schien mir dieses Wissen weniger real zu sein als mein gefühltes Wissen um die Schwierigkeiten, mit denen sie selbst als Kinder zu kämpfen gehabt hatten. Im Nachhinein kann ich sagen, dass es sich um eine Art emotionaler Dissoziation handelte – das Resultat der Verwirrung, die jene Informationen über die Gräuel in mir auslösten, Gräuel, die von der Generation meiner Großeltern in derselben kulturellen Lebenswelt, in der ich selbst aufwuchs, verübt worden waren. Rückblickend glaube ich, dass die Dissoziation, mit der ich auf die Informationen über die Shoah reagierte, nicht nur die Scham meiner Eltern und ihre Schwierigkeiten widerspiegelte, mir zu erzählen und zu erläutern, was sich in ihrer Kindheit abgespielt hatte, sondern auch ihre späteren Bemühungen, das, was sie als Kinder in ihrer Umwelt gesehen und gehört hatten, irgendwie zu begreifen« (4. Kap.; Hervorhebung A.O.). Frie, der in Kanada aufwuchs und die Schwierigkeiten wahrnahm, die die Vergangenheit seinen Eltern bereitete, hat die Art und Schwere der Verbrechen, die von der Generation seines Großvaters begangen wurden, zu erfassen gelernt und erlebt nun die Schuld- und Schamgefühle, die zu empfinden die Täter nicht fähig waren. Schuld und Scham haben Auswirkungen auf Fries Arbeit als Psychoanalytiker, vor allem, wenn er mit jüdischen Patienten arbeitet. Als er einem Patienten zuhört, dessen Eltern den Holocaust überlebt haben, wird ihm bewusst, dass seine Gedanken abschweifen und sich dem Leid zuwenden, das seiner eigenen Familie während des Krieges widerfuhr. Fries Leserinnen und Leser können sein Ringen mit der Frage, wann und wie er dem Patienten seine Identität, sein »Deutschsein«, offenlegen soll, miterleben. Sie werden dankbar sein für die detaillierte Schilderung der Begegnungen, in denen die Subjektivitäten des Psychoanalytikers und seines Patienten zutage treten und beide Beteiligte ihr jeweiliges historisches Erbe durcharbeiten können. Ein solcher Prozess des Durcharbeitens ist allerdings nur möglich, wenn der Psychoanalytiker sich empathisch in die innere Welt des Patienten vertiefen und gleichzeitig introspektiv bleiben kann – eine Voraussetzung, die Frie mühelos erfüllt. Eine der wichtigsten Botschaften dieses Buches ist die moralische Forderung, die Frie an Deutsche seiner Generation richtet, die Forderung, die Erinnerung an den Holocaust auch künftig, wenn die jüdischen Zeitzeugen nicht mehr unter uns weilen werden, wachzuhalten. Wahrscheinlich wird es nicht dazu kommen, denn Tätergenerationen wollen vergessen; an die Shoah wird – wie an die Zerstörung des zweiten Tempels – nur ein jüdischer Feiertag erinnern. Fries Aufforderung nachzukommen wäre aber eine Gelegenheit zur moralischen Rehabilitierung, die Deutschland in meinen Augen bisher noch nicht erlangt hat. Dies setzt allerdings voraus, dass Angehörige der zweiten und dritten Generation die Beteiligung eigener Familienmitglieder am Nationalsozialismus erforschen – eine belastende, schwierige Aufgabe mit dem Risiko, bei der Familie in Ungnade zu fallen und womöglich verstoßen zu werden. Die Verantwortung des Erinnerns zu übernehmen könnte ein Schritt sein, die von einer früheren Generation begangenen Verbrechen zu sühnen. Indem sich Frie dem Holocaust-Gedenken verpflichtet und sich zu der Vergangenheit, die an ihn weitergegeben wurde, bekennt, transformiert er seine ererbten Schuld- und Schamgefühle in ein Bewusstsein der moralischen Verantwortung.
 


»Es ist Frie gelungen, nicht nur individuell, sondern auch sozial die Widersprüche, Ambivalenzen, inneren und äußeren Widerstände in der Generationenfolge aufzuzeigen und den Leser an seinem äußerlich und innerlich schwierigen Prozess der emotionalen Beteiligung und Verantwortung teilnehmen zu lassen. (...) Ein (...) wichtiges Buch, das in Teilen auch im pädagogischen Bereich geeignet ist, die emotionale Seite von Schuld, Scham und Verantwortung im familiären Kontext anzusprechen.«

(Gertrud Hardtmann, socialnet.de)

 
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