Jede Idee einer postkolonialen Ordnung nimmt in Haiti ihren Ausgangspunkt. Indem Sklavinnen und Sklaven die Werte der Französischen Revolution für sich selbst durchsetzten und eine unabhängige Republik gründeten, hat die Haitianische Revolution 1804 in ihrer Wirkungsgeschichte ein neues Kapitel in der Universalgeschichte aufgeschlagen. Die Normen, die diese Revolution gesetzt hat – die Universalität der Menschenrechte – sind bis heute unhintergehbar und werden doch systematisch verletzt.
Zu einem Zeitpunkt, da die Debatte um die notwendige Dekolonisierung unserer europäischen Ideenwelt endlich neue Fahrt aufnimmt, setzt Haitianische Renaissance dem Herrschaftsnarrativ über die vielfach als gescheitert dargestellte haitianische Entwicklung eine vielfältige, facettenreiche Erzählung entgegen. Es geht um Fragen wie: Warum ist Haiti noch immer so fragil und die auf der gleichen Insel bestehende Dominikanische Republik vergleichsweise stabil? Wie haben sich von außen implementierte, ökonomische Großprojekte bewährt? Warum ist die internationale Hilfe nach dem Erdbeben 2010 so massiv gescheitert? Welche positiven Kräfte gibt es inmitten des »Chaos«?
Die Autorinnen sind diesen Fragen in Reportagen, Interviews und Hintergrundtexten, die historische, ökonomische, politische und kulturelle Kontexte herstellen, nachgegangen. In ihrem Buch versammeln sich bekannte Denkerinnen und Denker, Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten aus Haiti. Sie beleuchten kritisch das in europäischen Medien und auch in Nichtregierungsorganisationen verbreitete Narrativ über den »armen« karibischen Inselstaat und setzen der »single story« selbstbewusste Innensichten, geformt aus eigenen Analysen, Erfahrungen und Perspektiven außerhalb kolonialer Muster und Beziehungen, entgegen.
Erstmals ist nun in deutscher Sprache der Augenzeugenbericht des damaligen Repräsentanten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Haiti, Ricardo Seitenfus, zu lesen. Im Interview berichtet er, wie Vertreter demokratischer Staaten die Präsidentenwahlen nach dem Erdbeben 2010 manipulierten und versuchten, den haitianischen Staatspräsidenten René Préval durch einen Putsch außer Landes zu schaffen.
Nur selten zeigt sich so deutlich wie im Augenzeugenbericht von Ricardo Seitenfus, in welcher Weise Manipulationen und Desinformation auf höchster internationaler politischer Ebene vollzogen werden. Simple Narrative, die Haiti und die Haitianerinnen und Haitianer immer wieder für das Scheitern allein verantwortlich machen, werden hier eindrücklich widerlegt.
Auch die ausführliche Analyse der fehlgeleiteten Hilfe nach dem Erdbeben und die Einblicke in die Extraktionsökonomie zeigen, wie die postkolonialen Machtverhältnisse den Status quo der haitianischen Abhängigkeit zementieren.
Neben Ricardo Seitenfus kommen auch führende haitianische Intellektuelle wie Raoul Peck, Gary Victor, Suzy Castor, Yanick Lahens, Fritz Jean Alphonse und Vertreterinnen und Vertreter einer jungen haitianischen Zivilgesellschaft zu Wort. Sie zeichnen ein differenziertes und kritisches Bild der haitianischen Erfahrung.
Inhalt
Die Gefahr der einzigen Geschichte
Kapitel 1: Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation
Das wunderbare Wirkliche – Der Universalismus der Haitianischen Revolution und seine Auslöschung
Schuldenfalle und Extraktivismus – Der wirtschaftliche Niedergang Haitis
Der Hilfe ist nicht mehr zu helfen – Eine Rede von Raoul Peck
Kapitel 2: Krise und Rebellion
Tagebuch eines Aufstandes – Eine Septemberwoche
Gefährliche Hampelmänner – Interview mit Gary Victor zur Krise Haitis
Kapitel 3: Zwei Frauen
Zwischen den Mahlsteinen der Geschichte – Portrait der Historikerin Suzy Castor
Die Exotisierung des Unglücks – Interview mit der Schriftstellerin Yanick Lahens über das mutwillige Verschweigen der Haitianischen Revolution
Kapitel 4: Das Scheitern der Hilfe
Die Katastrophe nach der Katastrophe – Das Erdbeben von 2010 und seine Folgen
Das Waterloo des NGO-Systems – Interview mit dem Anthropologen Mark Schuller über eine postkoloniale Zeitbombe
Kapitel 5: Fatale Rezepte
Ein gescheitertes Megaprojekt – Die Freihandelszone in der Hafenstadt Caracol
Ökonomie der Gewalt – Interview mit Fritz Alphonse Jean über die Privatisierung des Staates
Kapitel 6: Die Vereinten Nationen und Haiti
Missionen mit falschem Ziel – Die USA und die Vereinten Nationen besetzen Haiti
Kronzeuge ohne Anklage – Interview mit Ricardo Seitenfus über die Mechanismen der Einmischung und einen Putschversuch
Kapitel 7: Zementierte Weltverhältnisse
Haiti und die Dominikanische Republik – Über die Manifestation eines ungleichen Verhältnisses
Bürokratie und Willkür – Interview mit Angénor Brutus über Migrationsverwaltungjenseits des Rechts
Kapitel 8: Die Bedeutung der Provinz
Die fatale Vernachlässigung des ländlichen Raums – Hoffnung auf Dezentralisierung: Ein Bericht aus Aquin
Die Republik Port-au-Prince – Interview mit Julien Mérion über den unverwüstlichen Zentralismus
Kapitel 9: Spuren, die aus der Misere führen
Inseln der Inspiration – Vier Beispiele aus Kultur, Bildung, Justiz und Landwirtschaft
Ein Territorium – zwei Länder – Interview mit dem Aktivisten Nixon Boumba über einen Systemwechsel in Haiti
Haitianische Renaissance: Epilog
Eine neue Runde der postkolonialen Emanzipation
Haitis eigener Weg
Katja Maurer und Andrea Pollmeier: Die Gefahr der einzigen Geschichte
Auf einer Tagung deutscher Hilfsorganisationen anlässlich des 10. Jahrestags des haitianischen Erdbebens fragte die Anthropologin Andrea Steinke die Anwesenden mit kritischem Blick, wer schon einmal in seiner Öffentlichkeitsarbeit folgenden Satz verwendet habe: »Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.« Die meisten reckten ihre Hände in die Höhe. Das Ergebnis war so wenig überraschend wie das schlechte Gewissen derer, die sich meldeten. Alle hatten zuvor schon geahnt, woran sie sich mit dem Mitleid erheischenden und Spenden einfordernden Satz beteiligten: Haiti auf eine einzige Geschichte zu reduzieren, diejenige seiner Armut. Die nigerianische Bestsellerautorin Chimamanda Ngozi Adichie hat das einmal die »Gefahr der einzigen Geschichte« genannt. Doch gegen diese reduzierende, die Lebensverhältnisse zementierende Haltung gibt es Widerstand. Vor allem im globalen Süden begehrt man auf und fordert nicht nur das Ende postkolonialer Lebensumstände, sondern auch die Transnationalisierung humanistischer Ideale (Achille Mbembe). Denn diese Ideale, für die Sklaven bereits in der Haitianischen Revolution gekämpft hatten, sind noch immer nur Vision. Selbst die Erinnerung an dieses Ereignis, das den Kolonialismus erstmals in seiner Fragwürdigkeit entlarvt hat, scheint bei uns erloschen. Die dritte Revolution der Moderne sei mutwillig verschwiegen worden, sagt die haitianische Autorin Yanick Lahens in dem hier veröffentlichten Gespräch. »Die Menschen wollen eine Zukunft außerhalb dieser kolonialen Beziehungen«, sagt der haitianische Aktivist Nixon Boumba ebenfalls in diesem Buch. Die Antworten, die sie erhalten, bewirken allerdings oft das Gegenteil. Es gibt bisher keine Renaissance der Haitianischen Revolution. Ganz offensichtlich fehlt eine Vorstellung, mit welchen Instrumenten der ersehnte Wandel eingeleitet werden kann. Die Ideale der Französischen Revolution gelten bisher als wichtigste Errungenschaft der Moderne. Sie sind jedoch nur halbherzig auf den Weg gebracht. Zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille zeigten 1791 die Aufstände in der französischen Kolonie Saint Domingue, wie eurozentrisch man die Ideen der Menschheitsrevolution interpretiert hat. Sie sollten nur für einen Teil der Welt gelten, das System der Ungleichheit aber sollte unangetastet bleiben. Bis heute gibt es dieses Defizit. Ist ein Wiederaufleben der Ideale, für die man in Haiti eintrat, möglich? Ist eine »Haitianische Renaissance« weltweit in Sicht? Wenn man auf eine solche Entwicklung hofft, ist es wichtig, die Mechanismen zu erfassen, die diesen Weg blockieren bzw. blockiert haben. Nach 13 Jahren Revolte war es zwar gelungen, formal Freiheit und Unabhängigkeit für die Sklaven in der französischen Kolonie zu erringen, im konkreten Alltag wurden jedoch Ausbeutung und Abhängigkeit maximiert. Als Kulturjournalistin, die eine, und als Mitarbeiterin von medico international, die andere, haben wir auf persönlich unterschiedliche Weise die tiefe Kluft zwischen den Idealen, bestehenden Narrativen und den realen Rahmenbedingungen der haitianischen Geschichte erfahren und darüber dieses Buch geschrieben. Zu einem Zeitpunkt, da die Debatte um die notwendige Dekolonisierung unseres europäischen Denkens neue Fahrt aufnimmt, schien es uns geboten, dem Herrschaftsnarrativ über die haitianische Entwicklung endlich eine facettenreichere Betrachtung entgegenzusetzen. Dies geschieht nicht nur in eigenen journalistisch geprägten, analytischen und kommentierenden Texten. In Haitianische Renaissance kommen vielfach Persönlichkeiten zu Wort, die in Haiti leben oder eng mit dem Land verbunden sind. Unser jeweils eigenes Weltbild haben sie gründlich in Frage gestellt und unseren Horizont geöffnet. Diese beglückende Erfahrung vermittelt sich, so hoffen wir, auch in diesem Buch.
»David gegen Goliath« – zum Aufbau des Buches
In Haiti zeigen sich die Folgen eines Systems, das bis heute auf Ideen der Ungleichheit basiert. Wer Haiti militärisch besetzt, die Wahl des Präsidenten fälscht, einen Putsch initiiert, eine Epidemie ins Land einschleppt oder als UN-Angehöriger Gewalttaten gegen Frauen verübt hat, musste bisher keinen Protest, kein Embargo und auch keinen Internationalen Gerichtshof fürchten. Selbst die internationalen Medien haben über solche Übergriffe nur vereinzelt berichtet. Vor allem in deutschsprachigen Leitmedien gibt es diese Berichte nicht. Erstmals ist nun in deutscher Sprache der Augenzeugenbericht des ehemaligen Repräsentanten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Ricardo Seitenfus, zu lesen. Im Interview berichtet er, wie Vertreter demokratischer Staaten die Präsidentenwahlen nach dem Erdbeben 2010 manipulierten und versuchten, den haitianischen Staatspräsidenten René Préval durch einen Putsch außer Landes zu schaffen. Seitenfus war auch Zeuge, als führende UN-Vertreter über das Auftreten der Cholera in Haiti informiert wurden und lange keine Maßnahmen ergriffen, um ein Ausbreiten der Epidemie zu verhindern. Nur selten gibt es die Möglichkeit, Manipulation und Desinformation auf höchster politischer Ebene nachweisbar zu machen. Ricardo Seitenfus hat in Dokumentationen, die zusammen mit investigativen Journalisten entstanden sind, diesen Nachweis erbracht. Simple Narrative, die Haiti als unfähig beschreiben, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, werden vor diesem Hintergrund äußerst fragwürdig. Auch die ausführliche Analyse der fehlgeleiteten Hilfe nach dem Erdbeben und die Einblicke in die Extraktionsökonomie zeigen, wie postkoloniale Machtverhältnisse den negativen Status quo in Haiti zementieren. Auf diese Weise ist das System der Ungleichheit, das nicht nur Haiti und die ehemaligen Kolonialstaaten betrifft, sondern weltweit dem ökonomischen Nord-Süd-Gefälle zugrunde liegt, auf Dauer installiert. In Essays, Porträts und Interviews kommen Beobachter und Betroffene dieser Ereignisse zu Wort. Sie beschreiben die Lage in Haiti aus ökonomischer, politischer, anthropologischer und kultureller Perspektive. So kommen aus Haiti zu Wort: die Historikerin Suzy Castor, die Schriftstellerin Yanick Lahens, der Citoyen Raoul Peck, der Autor Gary Victor, die Ökonomen Alrich Nicolas und Fritz Alphonse Jean sowie der Aktivist Nixon Boumba. In Interviews äußern sich aus der Perspektive internationaler Beobachter neben Ricardo Seitenfus außerdem der US-Anthropologe Mark Schuller und der über Dezentralisierung forschende Politikwissenschaftler aus Guadeloupe, Julien Mérion. Das erste Kapitel des Buches ist den historischen Hintergründen gewidmet. Es beschreibt den Moment, an dem der Weg zur postkolonialen Emanzipation begann. Die dann folgende Zeit wird auf der Basis neuester Forschungen, die von dem Ökonomen Thomas Piketty publiziert wurden, vor allem im Hinblick auf die Folgen der Reparations- und Schuldenpolitik sowie die Einflussnahme externer Staaten auf die Politik Haitis betrachtet. Der Abschnitt endet mit einer Rede von Raoul Peck, in der er nach seiner Filmdokumentation Tödliche Hilfe die Folgen einer neoliberal geprägten Hilfsindustrie für die Entwicklung Haitis beschreibt. Das zweite Kapitel gibt Einblick in die immer wieder neu aufflammende Protestbewegung Haitis. Blogbeiträge, die in einer akuten Phase der Demonstrationen 2019 veröffentlicht wurden, machen die Lage unmittelbar spürbar. Ein in dieser Zeit geführtesInterview mit dem Autor Gary Victor beschreibt das Risiko erstarkender, diktatorischer Strukturen. Das dritte Kapitel analysiert aus der Insider-Perspektive das Scheitern der internationalen Hilfe nach dem Erdbeben 2010. Als Mitarbeiterin von medico international hat Katja Maurer Projekte in Haiti langfristig beobachtet und zu den Folgen zudem den Anthropologen Mark Schuller interviewt. Im vierten Kapitel treten zwei renommierte Haitianerinnen in den Blick. Das Porträt über die Historikerin Suzy Castor, die nach der Diktatur aus der Diaspora zurückgekehrt ist, spiegelt die Verbundenheit haitianischer Intellektueller mit ihrer Heimat wider. Die Autorin Yanick Lahens hat sich in ihrem Werk mit den postkolonialen Wurzeln der haitianischen Gesellschaft auseinandergesetzt und spricht in einem Interview über die Bedeutung der Haitianischen Revolution. Ein Essay der Entwicklungsökonomin Aida Roumer untersucht im fünften Kapitel die Chancen von extern geplanten Wirtschaftsprojekten am Beispiel der Freihandelszone Caracol. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Leiter der haitianischen Nationalbank, Fritz Alphonse Jean, beschreibt die Stimmung in Haiti aus ökonomischer Perspektive. Im sechsten Kapitel wird deutlich, wie stark ausländische Staaten und internationale Institutionen auf innenpolitische Entscheidungsprozesse in Haiti Einfluss nehmen. Einem Überblick über UNO-Einsätze folgt ein Interview mit dem ehemaligen Repräsentanten der OAS in Haiti, Ricardo Seitenfus.
Das siebte Kapitel richtet den Blick auf die Beziehung zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik. Einem Essay über das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen beiden Staaten folgt ein Interview mit dem Mitarbeiter einer Organisation für »Flüchtlinge und Repatriierte«. Dort spricht Angénor Brutus über die Lage von dominikanischen Bürgern und Bürgerinnen mit haitianischer Herkunft, denen in einem willkürlichen Schritt des Staates, Pass und Aufenthaltsstatus entzogen worden sind. Im achten Kapitel schildert eine Reportage über die Provinzstadt Aquin, wie stark der staatliche Zentralismus dazu beiträgt, das Leben in der Provinz auszubremsen, und die Chancen, durch Dezentralisierung die Hauptstadt Port-au-Prince zu entlasten, immer weiter schwinden. Im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Julien Mérion werden Ursachen dieser Entwicklung analysiert. Im neunten Kapitel zeigen Beispiele aus Kultur, Bildung, Justiz und Landwirtschaft, wo in Haiti starke, eigenständige Entwicklungen stattfinden, die als Grundlage für ein zukünftiges Wiedererstarken des Landes gelten können. Gegen die zuvor beschriebenen Probleme scheinen die Initiatoren dieser Projekte zwar eine Art »David gegen Goliath«- Kampf heraufzubeschwören, doch zeigen sie die außergewöhnliche Willenskraft und Zielorientierung der haitianischen Bevölkerung. Ein Interview mit dem Aktivisten Nixon Boumba spiegelt die Positionen wider, die junge Menschen zusammen mit Vertretern aller Generationen und Gesellschaftsschichten in ihrem Kampf um einen Wandel in Haiti vertreten. Das letzte Kapitel lenkt den Blick auf übergeordnete Zusammenhänge und zeigt, wie stark der haitianische Weg mit universellen Entwicklungen verbunden ist. In der Vergangenheit haben sich diese Verflechtungen zwar destruktiv ausgewirkt, doch gibt es weiterhin die Hoffnung, dass das Pendel einmal zurückschwingen wird.